Beschlussvorschlag 26/04 Pandemie

Gemeinsam für Selbstbestimmung und Teilhabe – Maßnahmenvorschläge behinderter Menschen für den Landesaktionsplan 2021

Beschlussvorschlag des Arbeitskreises Bremer Protest

Die Bürgerschaft behinderter Menschen stellt fest:

In den letzten Wochen ist die Zahl der Menschen stark angestiegen, die sich mit dem neuen Coronavirus SARS-CoV-2 angesteckt haben. Dies hat zur Folge, dass auch die Zahl der Personen mit schweren Krankheitsverläufen angestiegen ist und weiter ansteigt. Personen mit schweren Krankheitsverläufen müssen oft im Krankenhaus und auf Intensivstationen behandelt werden. Wenn die Zahl der an SARS-CoV-2 erkrankten Menschen weiter stark steigt, wächst auch die Gefahr, dass nicht mehr für jede Person ein Platz auf einer Intensivstation zur Verfügung steht. Besonders gefährdet sind ältere Menschen und Personen, die Vorerkrankungen haben. Dies ist häufig auch bei behinderten Menschen der Fall. In der Pandemie sind sie daher auch besonders schutzbedürftig.

Vor diesem Hintergrund begrüßt es die Bürgerschaft behinderter Menschen ausdrücklich, dass die Bundesregierung sowie die Regierungen aller Bundesländer Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung des Corona-Virus ergriffen haben.

Festzustellen ist aber auch, dass vulnerable Personengruppen besonders hart von den Maßnahmen des Gesundheitsschutzes betroffen waren und sind. Vulnerabel sind Menschen, die besonders verletzbar und deshalb auch besonders schutzbedürftig sind. Auch behinderte Menschen können hierzu zählen.

Die Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung während des Lockdowns im Frühjahr dieses Jahres haben vor Allem auch behinderte Menschen und ihre Angehörigen stark getroffen und ihre Rechte erheblich eingeschränkt.

So gab es für behinderte Menschen in Wohneinrichtungen Kontaktsperren. Dies bedeutet, dass sie nicht besucht werden konnten und ihre Einrichtung zeitweise auch nicht verlassen durften.

Tagesförderstätten und Werkstätten für Menschen mit Behinderungen wurden zeitweise komplett heruntergefahren und beschäftigen nach wie vor nur einen Teil der dort tätigen behinderten Menschen.

Behinderte Schülerinnen und Schüler wurden häufig nicht in das sogenannte Homeschooling einbezogen, die Schulbegleiterinnen und Schulbegleiter standen den behinderten Schülerinnen und Schülern sowie ihren Eltern während der Zeit der Schulschließungen nicht als Unterstützung zur Verfügung. Häufig waren die Eltern behinderter Kinder während des Lockdowns auf sich allein gestellt und erhielten keine Unterstützung durch die Schulen und Kitas.

Die Menschen, die wegen der Schließung der Tagesförderstätten und der Werkstätten auch tagsüber in ihrer Wohneinrichtung bleiben mussten und müssen, erhielten und erhalten bisher nicht in ausreichendem Maße Angebote zur Gestaltung ihres Tagesablaufs sowie ihrer Freizeit.

Auch für Menschen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen haben die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie weit reichende negative Folgen: die Coronakrise verschärft die psychischen Belastungen dieser Personengruppe. Die Maßnahmen zur Eingrenzung des Infektionsgeschehens verschärfen die Notsituation von Menschen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen. Nach dem sechswöchigen Lockdown im Frühjahr dieses Jahres treten verstärkt Krisensituationen auf. Der niedrigschwellige Charakter des Versorgungssystems ist aufgehoben. Es gibt einen massiven Gruppenschwund. Gruppenaktivitäten wie Selbsthilfegruppen finden aus Angst vor Ansteckung nur sehr eingeschränkt statt. Die Angst vor Ansteckung erhöht dabei das häufig bereits bestehende Angstniveau. Menschen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen sind oftmals auch isoliert. Corona verschärft die Situation der Betroffenen.

Menschen, die aufgrund einer gesundheitlichen Einschränkung keine Maske tragen können, werden häufig diskriminiert: auch wenn sie durch ein ärztliches Attest von der Pflicht vom Tragen einer Maske befreit sind, werden sie daran gehindert, Geschäfte oder Gaststätten zu betreten. Auch müssen sie häufig erleben, dass sie von anderen Personen angepöbelt werden, weil sie keine Maske tragen.

Insgesamt ist und war die Lebenssituation behinderter Menschen während der Pandemie von Kontaktsperren und Betreuungsengpässen gekennzeichnet.

Maßnahmen zum Gesundheitsschutz müssen mehr als bisher in Einklang mit dem Recht auf Selbstbestimmung und wirksame Teilhabe behinderter Menschen gebracht werden.

Erste wichtige Schritte in diese Richtung unternimmt die 19. Coronaverordnung, die den teilweisen Lockdown für das Land Bremen im November dieses Jahres regelt.

So bestimmt sie, dass Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen der Behindertenhilfe berechtigt sind, Besuch zu empfangen. Hierfür haben die Träger der Wohneinrichtung ein Besuchskonzept zu entwickeln (§ 10 Abs. 2 Coronaverordnung).

Werkstätten für Menschen mit Behinderungen sowie Tagesförderstätten ist die Beschäftigung und Betreuung behinderter Menschen gestattet; Voraussetzung hierfür ist ein Schutz- und Hygienekonzept (§§ 13 und 14 Coronaverordnung).

Zur Wahrung der Rechte behinderter Menschen in der Pandemie fordert die Bremische Bürgerschaft behinderter Menschen den Senat und die Bremische Bürgerschaft auf:

  1. Alle zukünftigen und bereits ergriffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie werden so ausgerichtet, dass sie so weit wie irgend möglich mit den Rechten behinderter Menschen auf Selbstbestimmung und wirksame Teilhabe im Einklang stehen.
  2. Die Bremische Bürgerschaft setzt einen „Pandemieausschuss„ ein, der alle Maßnahmen des Senats zur Pandemiebekämpfung daraufhin überprüft, ob und inwieweit sie erforderlich, geeignet und verhältnismäßig waren und sind und im Einklang mit den Rechten der Bremer Bürgerinnen und Bürger stehen.
  3. Dieser Ausschuss wird auch damit beauftragt, zu untersuchen, welche Lehren aus der Coronakrise und den Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung für eventuelle zukünftige Pandemien bzw. Epidemien zu ziehen sind; an den Sitzungen dieses Ausschusses sind Vertreterinnen und Vertreter wichtiger gesellschaftlicher Gruppen wie zum Beispiel behinderter und älterer Menschen, Personen mit Migrationshintergrund usw. zu beteiligen.
  4. Kurzfristig werden Konzepte entwickelt und Maßnahmen ergriffen, die eine Teilhabe behinderter Kinder und Jugendlicher an der Betreuung in Kindertagesstätten und der Schule gleichberechtigt mit allen anderen Kindern und Jugendlichen ermöglichen. Es wird sichergestellt, dass behinderte Schülerinnen und Schüler im Falle von Schulschließungen auch am sogenannten Home-Schooling teilnehmen können und dabei die notwendige Unterstützung durch Schulbegleiter*innen erhalten.
  5. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen und Tagesförderstätten wird nicht nur gestattet, behinderte Menschen zu beschäftigen und zu betreuen. Vielmehr werden sie hierzu verpflichtet ebenso wie dazu, Schutz- und Hygienekonzepte vorzulegen, um den Gesundheitsschutz zu gewährleisten. Soweit irgend möglich, werden die Werkstätten und Tagesförderstätten weiter „hochgefahren“, so dass eine möglichst große Zahl der anspruchsberechtigten behinderten Menschen dort wieder beschäftigt und betreut werden können.
  6. Isolierende Maßnahmen und Kontaktsperren für behinderte Menschen in Wohneinrichtungen sind so weit wie irgend möglich und mit dem Gesundheitsschutz vereinbar zu vermeiden.
  7. Soweit behinderte Menschen in Wohneinrichtungen ausnahmsweise aufgrund ihrer gesundheitlichen Gefährdung noch nicht eine Tagesförderstätte oder eine Werkstatt für Menschen mit Behinderungen besuchen können, sind für Sie für einen Übergangszeitraum angemessene Angebote zur Tagesstrukturierung und Freizeitgestaltung in der Wohneinrichtung zu schaffen; hierbei ist darauf zu achten, dass auch für diese Personengruppe das 2-Milieu-Prinzip nach Abklingen der Pandemie wieder realisiert wird. Das bedeutet, dass behinderte Menschen an unterschiedlichen Orten wohnen und arbeiten.
  8. Die niedrigschwelligen Angebote für Menschen mit Psycho-sozialen Gesundheitsproblemen sind soweit irgend möglich zu reaktivieren.
  9. Auch in der Psychiatrie muss auf die zusätzlichen Belastungssituationen von Menschen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen im Sinne der Betroffenen reagiert werden; dies kann unter anderem dadurch erreicht werden, dass kurzfristig pro Station zwei Genesungsbegleiter*innen eingestellt werden.
  10. Die Psychiatriereform muss vor dem Hintergrund der Pandemie im Interesse der Menschen mit psychosozialen Gesundheitsproblemen vorangetrieben werden. Insbesondere müssen
    • den Betroffenen im Sinne des Recovery-Konzepts mehr Zeit gegeben werden („Der Weg ist das Ziel“),
    • mehr Raum und Zeit für Gespräche gegeben werden,
    • mehr Personal beschäftigt werden, insbesondere auch Genesungsbegleiter*innen,
    • ein Krisentelefon sowie ein Genesungstelefon eingerichtet und freie Genesungsbegleitung ermöglicht werden,
    • ein Qualitätssystem mit Fürsprecher*innen finanziell abgesichert werden,
    • Arbeitsangebote gewährleistet werden, welche die Leistungsgrenzen der Nutzer*innen akzeptieren,
    • weniger Arbeitseinkommen auf Sozialleistungen angerechnet werden.
  1. Menschen, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung von der Verpflichtung zum Tragen eines Mund- und Nasenschutzes befreit sind, müssen stärker geschützt werden. Hierzu ist in die Coronaverordnung die Androhung eines Bußgeldes für diejenigen aufzunehmen, die Personen, die von der Maskenpflicht befreit sind, diskriminieren, indem sie ihnen beispielsweise den Zutritt zu einem Geschäft oder Lokal verweigern.

Für die Fraktion: Dr. Joachim Steinbrück

Schriftliche Stellungnahme wird bis zum 31. März 2021 an den AK-Protest erbeten